Stadia - kein Netflix für Spieler?
Stadia Connect sollte die bisher "
größte Show" werden, versprach Google. Und es war dem Internetriesen mehr als zuzutrauen, dass er der alten Spielebranche im Vorfeld der gamescom mit seinem neuen Streaming-Service weiter das Fürchten lehrt. Hinter den Kulissen scharren vor allem Sony und Microsoft nervös mit den Füßen, bilden sogar
unerwartete Allianzen oder kaufen schnell noch
Studios wie Insomniac, während Phil Harrison fleißig Klinken putzt, um weitere Partner zu finden.
Und er hat Argumente. Immerhin kann die Alphabet-Tochter nicht nur mit 38,78 Mrd. Dollar Umsatz im zweiten Quartal 2019 wuchern, sondern mit einem soziokulturellen und damit höchst stabilen ökonomischen Einfluss - Google erreicht nicht nur jede Zielgruppe mit Werbung, Google weiß auch, was die Leute suchen, ansehen und kaufen wollen. Hat man jetzt auch die universelle Antwort für Spieler parat? Ist da ein Netflix für Zocker im Anmarsch?
Auf jeden Fall ist das im November startende
Stadia Pro im Vergleich zu PC oder Konsole preislich unschlagbar: Man braucht lediglich die Hardware Chromecast samt Controller für knapp 130 Euro und schließt ein Abo für zehn Euro monatlich ab, um Spiele in 4K mit HDR bei 60fps und 5.1 Surround-Sound auf seinen Bildschirm zu streamen. Dass da am Fernseher vielleicht eine Hardware mit Abhörfunktion lauert, verbannen wir mal eben ins Reich des Cyberpunk. Soetwas Orwell'sches würde Google doch nicht machen! Was soll man mit all den Daten...
Also zurück zu den Fakten für Spieler: Wer ein wenig rechnet, was er für PlayStation 5 oder den nächsten Highend-PC mit Raytracing investieren müsste, kann durchaus schwach werden, denn selbst der technische Underperformer Nintendo Switch Lite ist mit 230 Euro deutlich teurer. Nächstes Jahr soll dann die kostenlose (!) Variante
Stadia Base mit 1080p folgen. Damit visiert Google natürlich die vielleicht weniger anspruchsvolle, aber unheimlich kaufkräftige Generation Smartphone an, die mobil alles auf dem kleinen Bildschirm zockt. Ist das ein lukrativer Trend? Schaut mal auf die Umsatzzahlen in den AppStores. Oder fragt Nintendo.
Und jetzt stelle man sich mit etwas Fantasie die installierte Basis von Stadia in fünf oder zehn Jahren vor. Deshalb haben Dritthersteller wie Ubisoft bereits ihre komplette Unterstützung zugesagt, weil da auch für sie der sichere Gewinn lockt und weil die
Konvertierung der Spiele nicht so aufwändig ist wie anno dazumal, als sich Konsolen systemisch noch komplett unterschieden - selbst der Abo-Dienst UPlay mit über 100 Titeln wird über Stadia verfügbar sein! Und diese Bibliothek soll größer und größer werden...
Aber für den Hardcore-Zocker stellen sich noch andere Fragen, die Google beantworten muss: Wird das Spielerlebnis flüssig sein? Das ist die bekannte technische Achilles-Ferse, die aktuell zu einer Skepsis führt, um die auch Phil Harrison & Co wissen - und hier ist auch ein Internetriese verwundbar. Da verweist man gerne auf die 5G-Zukunft und das steigende Datenvolumen, das schon "irgendwie" befriedigt wird, aber richtig Tacheles wird erst geredet, wenn Doom Eternal & Co mit Höllentempo in Brandenburg oder dem Emsland durch die Leitung jagen. Niemand will schnelle Action mit Rucklern erleben - auch nicht zum Sparpreis. Apropos: Welche Spiele gibt es überhaupt zu welchem Preis?
Auch hier sind noch einige Fragen offen. Umso enttäuschender war das Diffuse, das Google im Vorfeld der Kölner Spielemesse präsentierte: ein wilder Mix von bekannten Titeln, von Independent-Spielen bis hin zu Triple-A wie Cyberpunk 2077. Es war zwar schön, dass man nicht die üblichen Phrasendrescher der Studios mit ihrem "Awesome" hier und "Breathtaking" da eingeladen hat und zum Rollenspiel von CD Projekt RED sogar neue Szenen sah. Aber die Reihenfolge der Spiele danach wirkte teilweise unfreiwillig komisch - als hätte ein Bot sie ausgesucht. Hier merkte man, dass da Erfahrung in der Ansprache fehlt. Oder eine Art Persönlichkeit.
Es war zwar zu erwarten, dass Google sein Portfolio nicht nur nach Qualität kuratiert, sondern hinsichtlich der Auswahl der Spiele für Stadia möglichst viele Interessen abdecken will, um mit dem Abo-Service die Masse zu erreichen. Die Alphabet-Tochter agiert quasi wie ein Wal, der einen neuen Ozean entdeckt hat. Und der frisst fast nebenbei alles, wenn er sein riesiges Maul aufreißt, auch das Kroppzeug. Nicht, dass Microsoft, Sony oder Nintendo ihre digitalen Theken ausgewählter befüllen würden - auch da werden die eShops fast ohne große Rücksicht von A bis Z versorgt.
Das Enttäuschende war allerdings auch die Art der Präsentation: Die Show wirkte so steril, dass die moderierende Lady auch ein Hologramm der Sprachsoftware Google Assistant hätte sein können. Das passte immerhin zu den bisherigen nüchternen
Aussagen von Andrey Doronichev, Director of Product bei Google: "Ich denke auch, dass sich das Spieldesign weiterentwickeln wird, um den Spielern, die jederzeit und auf jedem Gerät auf Spiele zugreifen können, gerecht zu werden." Ach, ja? Was für eine technokratische "Vision" des kleinsten gemeinsamen Nenners!
Trotz des robotischen Auftritts vermisste man auch klar strukturierte Ansagen zu Angebot und Preis. Alle neuen Spiele wie ein Cyberpunk 2077 wird man zum Vollpreis kaufen müssen, aber was ist z.B. neben Destiny 2 tatsächlich kostenlos? Bisher weiß man nur, dass es ein Spiel pro Monat sein wird. Welche kommen denn noch? Und die eigenen Exklusivtitel? Get Packed und
Gylt wurden nicht mal auf der eigenen Show gezeigt! Apropos: Zum anderen war bezeichnend, dass mit
Orcs Must Die! 3 lediglich ein weiteres exklusives Spiel für Stadia vorgestellt wurde, das alles andere als ein Kracher ist - und selbst das nur auf Zeit.
Google bedient sich also der bekannten Taktik und öffnet das Portemonnaie kurzfristig für Deals wie aktuell der Epic Games Store. Das ist ein legitimes, aber auch ernüchterndes und alles andere als großartiges Vorgehen. Es bestätigt natürlich die in letzten Äußerungen Googles absehbare, aus kreativer Sicht eher defensive Strategie: Stadia soll nicht das "Netflix der Spielewelt" werden, das in erster Linie selbst in aufwändige Produktionen investiert, sondern ein Shop mit extremer Kundenbindung über bekannte Titel, Rabatte und Service.
Es mag aus Spielersicht gut sein, dass das Angebot nicht noch weiter fragmentiert wird. Aus rein strategischer Sicht hätte ich von einem der Big Five der Tech-Branche auch zum Start mehr perspektivische Faszination für die Spieler erwartet, die das Exklusive wollen. Denn hier ist Google allen drei alten Wettbewerbern klar unterlegen: Sony, Nintendo und selbst Microsoft bieten mehr Einzigartiges für ihre Spieler, das sie binden kann. Und da läuft - das Meiste - technisch sauber. Außerdem bieten sie etablierte Marken samt bekannter Helden sowie digitale Ökosysteme mit Erfolgen, Trophäen etc., die Stadia zumindest initial nicht zur Verfügung hat.
Trotzdem ist der Preis der Trumpf. Und die Aussicht ist verlockend. Was würde man denn verlieren, wenn es ruckelt? Relativ wenig Geld und dann kündigt man einfach das Abo. Deshalb haben schon einige Redakteure bei uns Stadia vorbestellt. Zumal Google einen langen Atem bei prall gefüllter Kriegskasse hat. Auch wenn Jayde Raymond zum Start nichts faszinierend Exklusives aus dem Hut gezaubert hat, kann man das nächstes Jahr machen. Oder übernächstes. Man könnte THQ Nordic kaufen, die würden mit der Masse an Lizenzen genau ins Beuteschema passen. Oder man verzichtet aus gutem Grund genau darauf, diese Exklusivtaktik mit eigenen Studios weiter zu bedienen.
Denn hier befindet sich der größte digitale Spiele-Shop der Welt im Aufbau, der neben Apple und Amazon nicht nur mit dem PlayStation Network oder Xbox Live Gold, sondern auch mit dem Epic Games Store und natürlich Steam konkurriert und letztlich die Macht hat, alles zu absorbieren. Kein Wunder, dass man sich bzgl. einer Kooperation mit Valve noch bedeckt hält, denn der
neue Krieg der Spiele wird nicht allein von Alphabet geführt: Auch Amazon, Facebook, Apple und Tencent - die bekanntlich an Epic beteiligt sind - mischen mit. So einfach wird das nicht, da sind auch andere Wale!
Selbst wenn ich das Auftreten oder die spielerische Strategie auf dieser Stadia Connect kritisiere, steckt darin nicht nur eine unbedeutende Momentaufnahme angesichts einer kleinen Spielemesse, sondern auch viel spielkulturelle Naivität: Die Vision von Google ist nämlich eine rein numerische, die selbst Steam mit seinen 18,5 Millionen Nutzern klein aussehen lässt. Denn mit Stadia will man tatsächlich zwei Milliarden (!) Kunden weltweit anvisieren - nicht weil sie in Kalifornien rumspinnen, sondern weil sie rechnen können. Und weil sie den mächtigsten Influencer der Neuzeit an der Seite haben: YouTube. Das wird natürlich mit Stadia verknüpft.
Bei aller kritischen Distanz, die ich als Journalist gegenüber dieser Marktmacht der Big Five und gerade Google pflege, das sich mit seiner Suchmaschinen- und Keyword-Dominanz bis auf unsere Arbeitsweise in der Redaktion auswirkt: Die spannende Frage ist gar nicht, ob sich Stadia überhaupt in der Spielebranche durchsetzt - darin steckt nur der nostalgische Trotz einer Generation, die mit Spielen zum Anfassen groß geworden ist. Die Frage ist eher, welcher Shop und welcher Hardware-Anbieter im Jahr 2025 oder 2030 überhaupt noch neben Stadia existieren wird.
Jörg Luibl
Chefredakteur
Update vom 21.11.2019: Zum Test von Google Stadia