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KW 26
Freitag, 28.06.2019

Lovecraft hat Besseres verdient!


Liebe auf den ersten Blick kann für Spieler etwas sehr Schönes sein: Wenn es schon im Einstieg funkt, mit jeder Stunde weiter knistert und bis zum Finale tatsächlich eine Art digitales Feuer lodert. Das ist selten, klingt kitschig, aber das gibt es wirklich! Jeder von euch kann davon erzählen - selbst wenn es vielleicht verdammt lang her ist.

Nicht so schön ist es, wenn sich ein Spiel wie The Sinking City sofort nackig macht. Und zwar so, dass man nicht nur alle Defizite in ein paar Minuten erkennt, sondern auch alle Hoffnung auf eine unterhaltsame Spätzündung verliert. Als Spieletester will man diesen entlarvenden Röntgenblick verfluchen, denn ihm folgt meist ein Flüstern: Zeitverschwendung incoming!

Vor allem Fans von H.P. Lovecraft (1890-1937) können ein Lied davon singen, wie schnell die Hoffnung stirbt, dass ein Spiel seinem kosmischen Horror endlich gerecht werden könnte. Es gibt so viele Titel, die sich irgendwie mit seinem Werk oder Namen schmücken, aber so wenig Fortschritte darin, sich der düsteren Faszination seiner Geschichten zu nähern. Und das ist frustrierend, denn es wäre möglich!

 Moment: Sind Spiel und Literatur nicht zu verschieden? Ja, natürlich! Aber ist es zu viel verlangt, eine ähnliche Wirkung anzustreben? Nein, natürlich nicht! Nur würde es die intensive Beschäftigung damit voraussetzen, wie es diesem Schriftsteller gelingen konnte, auf so besondere Art zu faszinieren - Sammelei, Crafting und XP waren jedenfalls nicht dabei.

Dabei wird man schnell auf Merkmale treffen, die modernes Spieldesign mit seinem Hang zum Abgreifen, Vervollständigen und Durchschauen eher selten auszeichnet: Ahnungen, Andeutungen, Mysterien, Täuschungen, Rätselhaftigkeit, Unbekanntes, Verwirrung, Überraschung, Chaos.

Im Gegensatz zur klassischen, klar strukturierten Mythen- und Weltschöpfung eines J.R. R. Tolkien wollte H.P. Lovecraft ja kein System etablieren, wollte nicht die simple christliche Moral mit anderen Göttern verfestigen, sondern seine Leser jenseits von Gut und Böse wie fremde Entdecker anlocken und schockieren. Ähnliche Ansätze gab es in Soul Reaver, das ich mit seinem Rhythmus und seiner Ruhe schmerzlich vermisse.

 Mit zig Fragen wanderte man immer weiter in Lovecrafts nebulöses Universum, bevor man gleichermaßen ratlos wie überwältigt im Angesicht des Grauens die letzte Seite las. Aber dass dieses Ködern keine exklusive Eigenschaft der Literatur ist, zeigen ja schon einige Spiele auf ihre Art - an erster Stelle die Soulsreihe und in direkterer ästhetischer Art Bloodborne, aber auch kleinere Titel wie Sunless Sea oder Darkwood wären als Hommage mit ähnlichen Motiven zu nennen.

 Noch etwas können Spiele: gemütlich erzählen. H.P. Lovecraft ließ sich Zeit. Obwohl man Böses ahnte, wanderte man langsam mit der Skepsis seines Helden durch Innsmouth. Bevor es eskalierte, konnte man die Bewohner, die Architektur, die Gebräuche und damit die Stimmung vor Ort aufsaugen. In Call of Cthulhu: Dark Corners of the Earth aus dem Jahr 2005 waren diese Ansätze im virtuellen Innsmouth zu erkennen - aber dann versank es in plumper Ballerei.

 Denn auch das kennzeichnet Lovecrafts Geschichten: Seine Helden sind keine schießwütigen Rambos mit Schrotflinte und Granaten, sondern meist gebildete Akademiker oder Privatdetektive, die eher beobachten und analysieren. Sie wehren sich zwar, aber im Angesicht des Terrors fliehen sie - auch diese tendenzielle Unterlegenheit bei nahendem Wahnsinn haben einige Klassiker inszeniert, darunter hinsichtlich der akustischen oder visuellen Verstörung vor allem Silent Hill und Eternal Darkness.

 Gerade angesichts all dieser Beispiele ist es noch unverständlicher, dass "offizielle" Spiele wie Call of Cthulhu oder The Sinking City zwar immer wieder Ideen haben, aber letztlich so kläglich an der Umsetzung scheitern. Das ist auch ein wenig der Fluch des späten Erfolges von H.P. Lovecraft, dessen Mythen weiter entwickelt wurden und schließlich zu einer Popkultur führten, in der vieles modernisiert oder uminterpretiert, verwässert oder verkitscht wurde - mit allen Vor- und Nachteilen. Immerhin gibt es seit 1981 ein sehr gutes, bis heute aktualisiertes Pen&Paper-Rollenspiel von Sandy Petersen und Lynn Willis.

 Streng genommen war seine Horrorwelt schon immer ein Open-Source-Universum, an dem sich jeder beteiligen konnte, an dem viele Autoren schon zu seinen Lebzeiten hinsichtlich der Namen, Orte und Geschichten etwas beitrugen. Und direkt nach seinem Ableben im Jahr 1937 entwickelte sie sich sogar in Richtungen, die seinen Vorstellungen widersprachen. Plötzlich war ein "Cthulhu-Mythos" geboren, den H.P. Lovecraft so nie konzipieren wollte und den er nicht mal erwähnte.

 Mit dieser literarischen Umdeutung kann man leben, weil es ja die originalen Geschichten und die vielen Briefe aus erster Hand gibt. Aber mit diesem digitalen Status quo kann ich mich nicht anfreunden, weil es noch keinem Spiel gelungen ist, seinem faszinierenden kosmischen Horror gerecht zu werden. Und das, obwohl dieses Medium dazu in der Lage wäre. Oder liegt es ganz einfach daran, dass bisher kein wirklich talentiertes Studio den Versuch wagte? Mal sehen, wer das erste wirklich große, möglichst werktreue Lovecraft-Abenteuer für Xbox Scarlett, PlayStation 5 oder PC entwickelt.

Ich wäre für Naughty Dog, CD Projekt RED oder From Software.


Jörg Luibl
Chefredakteur


Falls ihr euch für das Thema H.P. Lovecraft interessiert, haben wir noch Beiträge im Angebot:

Video: Einführung in die Geschichte von H. P. Lovecraft
Video: Einführung in den Mythos von H.P. Lovecraft


 

Kommentare

artmanphil schrieb am
Also Prisoner of Ice fand ich sehr gelungen! Aber ja, ist ewig her... auch gab es da noch Another World, das sich vor allem anfangs stark an Lovecrafts Werk orientierte. Dennoch, dem Cthulhu-Mythos fehlt ein "offizieller" neuer Eintrag von erste Güte schon seit Dekaden, oder überhaupt. Spielerisch wäre ein Metroidvania-Ansatz doch ideal, insbesondere, wenn er à la From Software nicht in einem sidescrollenden Raster stattfände. Ich drücke die Daumen.
Kajetan schrieb am
4P|T@xtchef hat geschrieben: ?01.07.2019 15:08 Falls du Lust hat, schau mal das Video an; dann müsste klar sein, warum ich gerade nicht "Das hat der Cthulhu-Mythos nicht verdient", als Titel gewählt habe - den hat Lovecraft nämlich nicht konzipiert.;)
https://www.4players.de/4players.php/tv ... craft.html
Zuerst Video anschauen und erst danach kommentieren? Papperlapapp, wo sind wir denn? :mrgreen:
Okok, ich schau's mir an.
Kajetan schrieb am
Abroxas hat geschrieben: ?01.07.2019 12:46 Lovecraft hat nen feuchten Dreck verdient.
Das stimmt. Man sollte wohl eher sagen: Das hat der Cthulhu-Mythos nicht verdient. Auch wenn Lovercraft ihn begründet hat, so wurde er später durch viele andere Autoren erweitert und fortgesetzt. Das ist also schon lange nicht mehr SEIN Baby.
Dann muss man nicht jedes Mal durchnudeln, dass Lovecraft ein ganz normaler WASP-Rassist seiner Zeit war, der gerne gegen Schwarze, Juden, Iren und deutsch-stämmige Einwanderer gehetzt hatte.
schrieb am