Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 05
Dienstag, 27.01.2004

Objektivität? Gibt es nicht!


„Das soll ein objektiver Test sein?“

Hochverehrte Leser, fachkundige Zocker: Objektivität existiert bei einem Spieletest de facto nicht! Er kann professionell sein - also argumentativ, gut recherchiert und lesbar. Er kann fair sein - also abwägend, genre- und zielgruppenfreundlich. Aber objektiv? Das ist nur eine hübsche Fata Morgana, nur ein herrliches Schlagwort, mit dem man sich als Autor gut verteidigen, und mit dem man als Leser gut angreifen kann:

„Scheiß Test! Ich sehe es objektiv, 4Players eben subjektiv.“

Jawoll! Bingo! Er hat Recht...was uns angeht. Nur muss es richtig lauten:

„Scheiß Test! Ich sehe es subjektiv, 4Players eben anders subjektiv.“

Ein Text kann noch so nüchtern, noch so eunuchisch kleinlaut aufgezogen sein - spätestens mit der Wertung und dem Fazit outen sich selbst die eifrigsten Verfechter der Objektivitätstheorie als subjektive Richter. Und jetzt festhalten: Alle Tests in unserem Archiv sind subjektiv! Alle, alle, alle!

Warum? Weil jeder Rezensent seine ganz eigene Zockervita, seine eigenen Erfahrungen, Sympathien und Abneigungen in die Wertungswaagschale wirft. Je nachdem, welche emotionalen, musikalischen, politischen und künstlerischen Voraussetzungen jemand mitbringt, verändert sich in Sekundenschnelle das Verhältnis zu einem Spiel.

Wer weiß schon, wie es in der Kritikerseele rumort? Manchmal sind es sogar abstruse Kleinigkeiten, die stören: Die Stimme der Prinzessin erinnert an die zickige Cousine, der Mentor gestikuliert wie ein nerviger Pauker aus der Schulzeit, die Musik weckt alten Technohass, der texanische Held bringt den latenten Anti-Amerikaner auf die Palme.

Und selbst, wenn jeder Spielejournalist das empört von sich weist: Es interessiert das unbestechliche Unterbewusste einen feuchten Kehricht! Denn da tummeln sich so viele Abneigungen und Gelüste, die sich vielleicht nicht wörtlich, aber zwischen den Zeilen und sicher prozentual an die Öffentlichkeit schleichen.

Natürlich würde kein gestandener Tester diese lästigen Stimmen in seinem Artikel zu Wort kommen lassen - nein, nein. Die verkriechen sich hermetisch abgeriegelt hinter der aus Sicherheitsgründen aufgebauten Mauer der Objektivität und können sich nie gedruckt, nie online austoben - hey: Wir sind doch nicht blöd! Oder gar schizophren! Außerdem hätte das erstens keinen Stil und wäre zweitens unprofessionell. Oder doch nicht?

Immerhin gibt es eine Ausnahme. Ein Reservat, wo sich plötzlich das Persönliche und Ur-Subjektive austoben können. Wo die Mauer in Sekundenschnelle eingerissen, wo herzhaft abgelästert, wo kurz und knackig Tacheles geredet wird. Wo sich nüchterne Schreiberlinge stolz als Stealth-Hasser, Lara-Süchtige, Shooter-Feinde, Molyneux-Hörige oder Nintendophile outen. Wo Spiele gnadenlos mit zwei, drei Schlagworten taxiert, kastriert und einsortiert werden: die Mittagspause.

Und weil das Ganze später nur schön lesbar, von Fäkalvokabular und latenten Psychosen gereinigt sowie mit hübschen Floskeln gewürzt niedergeschrieben wird, sind alle Spieletests dieser Welt, die trockenen und die witzigen, die kurzen und die langen, die italienischen und die dänischen, die legasthenischen und die korrekten, die lieben und die bösen, die guten und die schlechten, immer eines: subjektiv.

Und was soll man jetzt lesen? Wem soll man glauben? Natürlich 4Players! Erstens ist unsere Subjektivität selbstverständlich die beste, zweitens haben wir keine Mittagspause….


Jörg Luibl

4P|Textchef


Aktualisierung vom 9. Juli 2019:

Diese Kolumne aus dem Jahr 2004 haben wir aus aktuellem Anlass nochmal herausgekramt - weil uns bis heute Fragen zur Objektivität und Subjektivität gestellt werden, gerade über Social Media, die hier relativ zeitlos beantwortet werden. In einem neuen Video-Kommentar versuche ich zu erläutern, warum wir bei 4Players "Analytische Subjektivität" betreiben.

 

Kommentare

TheoFleury schrieb am
Gut das das klar gestellt wurde. Übrigens: Viele lesen eigentlich den Test nicht ganz durch, sondern clicken gleich auf die Fazit-Seite.
Und am Ende so ne dumme Zahl. Manchmal liest man sich den ganzen Text durch und denkt :"Das wird sicher eine 80+ Wertung"....Am Fazit angelangt <--- Schock : Nur 70% !? WTF! Die kids lieben anscheinend Zahlen und lesen nicht mehr so gerne....
Finde Eurogamer hat es gut gelöst diese dumme Prozent Zahl am Ende weg zu lassen. Der ganze Test auf einer Seite ohne Zahlenwertung. Könnte die Menschen dazu animieren sich auch mal den ganzen Test durchzulesen. :lol:
Jörg Luibl schrieb am
Jup. Hinter der Subjektivität steckt letztlich mehr analytische und damit auch objektivierende Arbeit als mancher meint.;)
Balla-Balla schrieb am
4P|T@xtchef hat geschrieben: ?11.07.2019 10:52 Manchmal fühlt man sich wie in einer Zeitschleife: Zwischen 2004 und 2019 liegt scheinbar nur eine Sekunde. Dann hast du hier ja seit Jahren richtig subjektiven Pfusch am Testbau beobachtet, ohne zu merken, was ganz oben auf unserem Firmenschild steht. Oder was wir über ein Jahrzehnt so über unser Handwerk sagen.:)
Nun ja, wie ein anderer schon sagte, ist das "subjektiv" auf dem Firmenschild schon auch etwas Koketterie. Ich erlebe euch nämlich durchaus als ernste und fähige Journalisten, sogar mit die Besten, die die Spielepresse, die ich kenne, zu bieten hat. Und Journalismus ist weitaus mehr als nur seine Meinung zu verbreiten, auch wenn das leider immer mehr so verstanden wird. Recherche, wertungsfreie Faktendarlegung und -analyse, das Handwerk des Schreibens, Bildung, Allgemeinwissen - das alles findet man bei 4P, das wisst ihr selbst und dafür seid ihr berühmt (berüchtigt :)).
AUCH Subjektivität, klar, vor allem in den Tests. Allerdings handhaben die Redakteure diese unterschiedlich. Ich erinnere mich z.B. an einen Test über Tom Raider von Micha. Kurz vorher erklärte er irgendwo, dass er die Reihe nicht möge und nörgelte daran herum. Als dann der Test von ihm kam, dachte ich: oh weia! Und siehe da, recht sachlich stellte er die Fürs und Wieder zusammen und gab dem Ganzen schließlich sogar eine positive Wertung.
Ganz anders deine Vorgehensweise, vor Kurzem zu Betrachten z.B. bei RDR2. Dich persönlich hat die Entschleunigung so dermaßen begeistert, dass sämtliche Mängel des Spiels keine Bedeutung mehr hatten. Du hast sie im Test erwähnt, ja, aber nicht in Wertung und Urteil einbezogen.
Mich stört das alles nicht, 4P ist ja auch mehr als die Tests und selbst die extrem subjektiven haben ja viel Informationsgehalt. Außerdem erklärst du ja hier zum gefühlt hundertsten Mal, dass Subjektivität eben in der Natur der Sache liegt. Das stimmt natürlich, nur, bei der Handhabung jener gibt es eben doch graduelle Unterschiede.
Jörg Luibl schrieb am
Manchmal fühlt man sich wie in einer Zeitschleife: Zwischen 2004 und 2019 liegt scheinbar nur eine Sekunde. Dann hast du hier ja seit Jahren richtig subjektiven Pfusch am Testbau beobachtet, ohne zu merken, was ganz oben auf unserem Firmenschild steht. Oder was wir über ein Jahrzehnt so über unser Handwerk sagen.:)
johndoe1794441 schrieb am
godsinhisheaven hat geschrieben: ?11.07.2019 08:34
Sag mal lest ihr überhaupt Jörgs Kommentar und die Antworten dazu? Und denkt darüber nach?
Natürlich. Es ist eben nur so, daß Jörg in seinem Test von 2004 den Eindruck erweckt hatte, Objektivität aufgeben zu wollen.
Ein Eindruck mag subjektiv geprägt sein, dann gehört das entsprechend kenntlich gemacht. Aber wer beruflich testet, darf nicht mit Subjektivität hausieren gehen oder dies zur Grundlage der Testbesprechung machen. Das ist schlichtweg ein handwerklicher Kardinalfehler.
schrieb am