Kolumne

hundertprozent subjektiv

KW 41
Mittwoch, 07.10.2009

Alte Scheiße Durchschnitt


Bah! Pfui! Das ist ja eine primitive Überschrift. Immer diese Fäkalsprache. Aber was soll man machen? Etwa im anglizistischen Zeitgeist über "old crap average" sprechen? In Gamish über die "holyfuckingshit n00b metascore"? Oder in Anbiederung an wissenschaftliche Vernebelung "Die Problematik von Durchschnittswertungen und Metadatenbanken im Kontext der internationalen Spielekritik" untersuchen? Nein, nein.

Unsere Muttersprache besitzt herrlich harte Worte, um aufgeweichten Durchfall so zu brandmarken, dass der schlechte Geruch mit klarer Asche verfliegt. Also raus damit, wir müssen uns ja verstehen: Das Thema stinkt einfach - also der Durchschnitt. Denn da haben einfach zu viele Leute reingeschissen - also in den Durchschnitt. Und was kommt dann heraus? Ein ganz großer Haufen Scheiße. Hört sich ekelhaft an, riecht auch so und ist jetzt endlich raus. Meine Güte, das kann ja so entspannen und den Blick frei machen.

Also zurück zur analen Metapher: Dieser braungrüne Hügel aus Spieletests aller Herren Länder stinkt ja nicht mehr nach seinen einzelnen Urdrückern, sondern nach einem aus vielen Aromen zusammen gepanschten Kollektiv: Dem Gleichschiss. Das ist ein ganz mächtiger Metamegahaufen, der zuerst durch angelsächsische Schüsseln abgeseilt wird, weil Amerikaner, Australier und Briten ihre Tests meist zuerst verdauen und anschließend vermengen können. Der weltweit erste exklusive Plumps sorgt dann auch gleich für eine gewisse Tendenz, was die zu erwartende Hügelarchitektur angeht, denn dann spritzt es meist verdammt hoch in der Prozentschüssel - 96% sind keine Seltenheit.

Das sorgt natürlich für einen gewissen Druck in Europas Magazinmägen: Wer da genau so euphorisch reinplumpst, fällt natürlich nicht auf; außerdem gibt es durchaus Sicherheit, wenn man genau so riecht wie die Masse. Man munkelt, dass manche Magazine aufgrund der Zeitnot und Bequemlichkeit einfach noch mal alles anglizistisch Ausgeschiedene wiederkäuen - ekelhaft, oder? Aber selbst wenn man auffallen wollte: Der Haufen ist ja irgendwann alleine aufgrund der vielen Ausdrückenden so schwer, dass jegliche Abweichung in Farbe und Geruch, jegliche Argumentation und Individualität ohnehin zermalmt wird.

Natürlich kommt es auf die Nase des Beriechenden an, ob man da tatsächlich einen Haufen Scheiße oder einen Hort voller Gold in dem Durchschnittswert sieht. Was für mich als Kritiker mit einer Vorliebe für gute persönliche Argumentationen, die letztlich jede Wertung rechtfertigen können, unheimlich stinkt, kann für einen anderen richtig duften - gerade in einem Zeitalter, in dem man schnell klicken und sofort Ergebnisse sehen will, anstatt lange zu lesen. Und letztlich hat die Spielewelt mit ihrer dezimalen und prozentualen Tradition ja selbst den Nährboden für diesen Haufen bereitet.

Der Mathematiker hat auch gar keinen Grund seinen Riechkolben zu rümpfen, denn er erkennt den heiligen Mittelwert als Ergebnis hunderter Einzelwerte, er sieht die harte Statistik und die Magie der Zahl. Auch der Käufer muss nicht angewidert sein, wenn er sich auf metacritics, gamerankings & Co informiert, sondern kann scheinbar auf einen Blick erkennen, ob er seine Euros sicher investiert, denn wenn das internationale Testerkollektiv jubelt, dann muss der Spielspaß einfach da sein, oder? Ja, manchmal ist auch gar nichts faul an diesem Haufen, wenn alle gemeinsam virtuelle Qualität verdauen: Man denke an das Spiel, das weltweit die höchste Durchschnittswertung erzielt hat, an den Mount Everest der Mittelwertstatistik: Ein Hoch auf The Legend of Zelda: Ocarina of Time (N64) mit 97,69%!

Aber dieser Haufen sorgt nicht nur für Euphorie. Zurück bleibt nämlich diese eine mächtige Zahl, die in den Büros der Publisher sogar über Arbeitsplätze, Boni und Nachfolger entscheiden kann, denn der internationale Durchschnitt ist auch die heilige Kuh des so genannten "Reportings". Wenn der PR-Manager seinem Chef nicht erklären kann, warum dieses oder jenes Magazin so unverschämt niedrig bewertet hat, obwohl doch der Rest so gut auf den Haufen gezielt hat, dann gibt es mächtig Stunk. Denn so mancher Publisher geht davon aus, dass man mit guter PR, also genug geheuchelter Zuwendung und doppelt Aufmerksamkeitskäse, auch gute Plumpsresultate erzwingen kann. Und wenn das nach hinten losgeht, kann das bekanntlich so weit gehen, dass man die bösen Danebenwerter von der Schüssel klagen will.

Es ist aber nicht nur die Nase, die nach einer Massenvermischung Probleme mit der Differenzierung hat. Das Auge isst ja bekanntlich auch mit: Wenn man sich diesem undefinierbaren Durchschnitt nähert, kann man auch optisch kaum noch erkennen, wer da eigentlich wo und mit welchem persönlichen Ausdruck hingeschissen hat. Und wenn man Pech hat, dann entspricht gerade diese nicht mehr zu erkennende Abweichung dem eigenen Geschmack, dann hat gerade diese eine Testerpersönlichkeit etwas erlebt und in Worten ausgedrückt, das einen trotz einer 64% neugierig gemacht oder trotz einer 94% vor dem Kauf gewarnt hätte.

Das Internet ist natürlich auf der einen Seite die beste Arena für die Zahl, ein El Dorado für Statistiken, denn die Leute suchen in dem Wust an Informationen nach Lösungen, Vergleichen und Werten. Und genau so wie die Durchschnittlichkeit an Macht gewinnt, weil die Masse sie hofiert und kauft, wird der Durchschnittswert natürlich ein König bleiben. Er kann geschickt von der PR manipuliert werden. Er kann auf unehrliche Weise regieren, wie Amazon, Ciao & Co zeigen. Er ist kein König ex virtute, kein Herrscher aufgrund bewiesener Qualität, sondern aufgrund summierter Quantität.

Er stinkt. Und er verliert mittlerweile auch im Internet an Vertrauen. Denn die Leute wissen, dass keine Zahl so wertvoll sein kann wie eine scharf formulierte und ehrliche Einschätzung des Erspielten, wie eine ebenso leidenschaftliche als auch analytische Auseinandersetzung mit virtuellen Welten. Selbst wenn man dem als Leser nicht zustimmt, steht am Ende trotzdem eine Erkenntnis: Die der gegensätzlichen Gewichtung. Das Wort "Durchschnitt" hat ja eine überaus passende Bedeutung, denn es geht um das Durchschneiden, also um das Trennen. Und das kommt dem Spieletest wiederum sehr nahe, denn man teilt in Pro und Kontra, man wägt Positives und Negatives gegeneinander ab, um dem Leser seine Spielerfahrung mit allen Höhen und Tiefen zu vermitteln.

Echte Spielspaßjäger, die auch abseits der Massenablehnung oder Massenzustimmung nach virtuellen Schätzen suchen, sollten sich an Indianern, Waldläufern und vor allem Hunden orientieren - die haben eine klasse Nase und erschnüffeln ihre Fährte. Man sollte sich selbige jedenfalls nicht über reine Zahlengläubigkeit verderben lassen. Man sollte sich vielmehr die Überbleibsel eines langen analytischen Verdauungsprozesses aka Spieletests so intensiv ansehen wie ein Spurenleser den Kot seiner potenziellen Beute. Nehmt den einzelnen Test auf, zerbröselt seine Seiten, damit die Argumentation ihre Aromen entfalten kann. Und wenn das plötzlich duftet, wenn es zwischen Text und Leser funkt, dann kann man getrost auf den internationalen Durchschnitt scheißen.


Jörg Luibl
Chefredakteur

 

Kommentare

sixti66 schrieb am
meiner meinung nach lesen sich die meisten spieletests auf 4players nicht anders als kommentare. objektivität ist leider eher mangelware und man muss sich tatsächlich durch viele spieletests hier - ähnlich wie durch scheiße - wühlen um die reine meinung des testers vom eigentlichen inhalt bzw. angebot des spiels trennen zu können. dahingegen ist eine universale kritik in form einer wertung von verschiedenen testern viel unvoreingenommener und dementsprechend auch gehaltvoller.
bei indiespielen bzw. kleiner angelegten projekten liegt die sachlage wieder etwas anders, und bei denen orientiere ich mich tatsächlich eher an einzelkritiken, weil low-budget spiele häufig von vornherein bei vielen spieleseiten keine chance haben.
Jörg Luibl schrieb am
Noch etwas Geduld, dann wir alles vielfältiger, aktueller und natürlich besser. :wink:
MrLetiso schrieb am
Schade, dass immer und immer wieder recyclet wird... >_> Jörg! Das kannst Du besser!
Matthias666 schrieb am
Also ich bin ja nicht dumm, lese gerne anspruchsvolle Texte, aber am Ende dieser Kolumne frage ich mich immernoh, was du uns eigentlich nun sagen willst? ^^
schrieb am