Wie auf hoher See...
...wankt Ryo durch sein Zimmer. Nein, der 18-Jährige ist nicht betrunken - auch wenn er allen Grund dazu hätte, denn sein Vater wurde gerade von einem mysteriösen Chinesen umgebracht, während er zusehen musste. Und das mitten im familiären Dojo, obwohl beide japanische Kampfkünste beherrschen! Aber gegen die schwarzbebrillten Anzugträger mit ihren Knarren und diesen exotisch anmutenden Lan Di mit seiner außergewöhnlichen Technik hatten beide keine Chance. Auch wenn Ryo seinen Vater rächen will, ist das noch ein sehr weiter Weg, der gerade im Jahr 2018 selbst von einem alten Verehrer und aktuellem Unterstützer der Reihe viel Geduld verlangt.
Shenmue beginnt mit einer klassischen Rachegeschichte: Der Sohn trauert um seinen Vater.
Man fühlt sich fast wie auf hoher See, wenn man die ersten Schritte in Schultersicht wie ein steifer Matrose macht und dabei von der wackligen Kamera begleitet wird. Zwar hat Sega die Steuerung "modernisiert", so dass man neben dem Steuerkreuz optional auf die Analogsticks oder Maus und Tastatur zurückgreifen kann. Trotzdem läuft die Erkundung nach heutigen Maßstäben alles andere als intuitiv - dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass die Steuerung auch anno dazumal etwas zickig war. Erst wenn man sich daran gewöhnt hat, dass man sich besser nicht so oft umschaut, zumal auch gar keine Rundumsicht möglich ist, wird das Erlebnis stabiler. Die Steuerung könnt ihr übrigens noch in einigen Bereichen konfigurieren.
Dezente Modernisierung
Der erste Blick beim ruhigen Wandern durch Haus und Dorf offenbart allerdings schonungslos das Alter eines Spiels, das auf Dreamcast im Jahr 2000 noch mit seinem "FREE Full Reactive Eyes Entertainment" visuell verblüffen konnte. Die technische Faszination ist in diesen Neuauflagen, die auf den später erschienenen Xbox-Versionen beruhen, trotz Rendering in HD-Auflösung, guter Kantenglättung sowie Nachbearbeitungseffekten nicht mehr vorhanden. Ryo
Vor allem das Milieu einer japanischen Stadt wird spürbar.
scheint wie ein Roboter zu laufen, die damals so herausragende Mimik wirkt nicht ausdrucksstark genug und die Soundeffekte, aber vor allem die gesprochenen Passagen klingen schrecklich dumpf. Die Zwischensequenzen haben links und rechts schwarze Balken, wechseln manchmal inkonsequent das Seitenverhältnis und die Kulisse zeigt immer wieder ihre kantigen, grob aufgelösten Seiten. Hier hat man also nur das Allernötigste getan, um diesen Klassiker zu modernisieren.
Umso erstaunlicher ist, dass diese Defizite an der Oberfläche dem Erlebnis im Kern nicht schaden. Natürlich ist das für mich auch eine nostalgische Zeitreise zurück in die Vergangenheit, denn im Jahr 2000 fing ich bei 4Players an zu arbeiten und wurde gleich von diesem Abenteuer
überwältigt. Viele alte Spiele, die man irgendwann mal auszeichnete, verlieren mit den Jahren an Reiz - u.a. aufgrund des technischen sowie spielmechanischen Fortschritts innerhalb eines Genres. Aber Shenmue entfaltet auch ohne 4K-Unterstützung und mit nicht mehr als 30 Bildern pro Sekunde in spröder Kulisse seinen Charme, indem es auf viele Arten entschleunigt. Zwar gibt es ein Zeit-Management, man muss also seine Tätigkeiten vom Aufstehen bis zum Schlafen gehen koordinieren, aber die Regie inszeniert das mit viel Ruhe, so dass auch der Alltag dieses jungen Helden sowie das Leben in der Kleinstadt mit all ihren Charakteren spürbar wird. Dass dabei auch Katzen, Kinder und Senioren auftauchen, war für damalige Verhältnisse und ihren Fokus auf erwachsene Figuren ebenso etwas Besonderes wie die unglaubliche Vielfalt an Gesichtern. Auch wenn der gut inszenierte Einstieg vielleicht ein filmreifes Beat'em Up vermuten ließ, ging es erst in späteren Phasen um den Kampf sowie die Entwicklung einzelner Techniken und spannende Reaktionstests. Für all die spielmechanischen Details verweise ich auf
meinen Test aus dem Jahr 2000.
Das spazierende Spiel
Im Vergleich zu aktuellen Open-World-Spielplätzen entsteht hier ein Spielfluss, ohne dass man ständig etwas freischaltet, Listen abhakt, von Zielmarkern oder blinkenden Interaktionssymbolen zu Aktionen oder Routen genötigt wird - ein Tagebuch notiert automatisch die wesentlichen Namen, Nummern und Gedanken. Das war's. Man kann dort entspannt nachschlagen, sich in Ruhe umschauen, muss alles
Auch Beziehungen spielen eien wichtige Rolle neben dem Kampf und der Erkundung. Nur die Kulisse kann nach heutigen Maßstäben nicht mehr begeistern.
selbst entdecken und lediglich der blau gefüllte Kreis in der leicht angepassten Benutzeroberfläche zeigt an, dass man z.B. eine Schublade öffnen oder ein Gespräch beginnen kann. Zwar gibt es innerhalb der gewöhnlichen Dialoge mit Passanten & Co meist keine Wahl, aber dafür sorgen kleine Auswahlsituationen immer wieder dafür, dass man etwas entscheiden kann. Gibt man der Katze also Tofu oder Fisch? Übrigens keine Bange: Man kann jederzeit manuell in mehreren Slots speichern.
Auch wenn es später natürlich auch um Kampf und Drama geht: Shenmue gehört zu den wenigen Spielen, die auch ein Milieu abbilden können, das man langsam für sich entdecken kann - in diesem Fall vor allem ein japanisches der 80er Jahre. Zwar muss man nach zwei Jahrzehnten und der Grand-Theft-Autorisierung von ganzen Städten und Popkulturen oder auch
Yakuza 6 viele vor allem visuelle Abstriche machen, außerdem wirken manche Dialoge künstlich, aber Architektur, Kleidung, Gebräuche, Geschäfte und Sprache sorgen dafür, dass man an ein glaubwürdiges Städtchen namens Yokusaka und später nach Dobuito sowie China entführt wird. Man fühlt sich trotz der offensichtlichen Defizite immer noch versetzt an einen anderen Ort. Dazu tragen auch die kleinen Minispiele bei, mit denen Ryu seine Spielzeugsammlung erweitern oder sein Budget als Arbeiter aufbessern kann. Viele Fans wird natürlich besonders freuen, dass man die beiden Abenteuer auch erstmals im japanischen Originalton erleben kann, was den Effekt nochmal verstärkt.